„Arbeitslosigkeit

pulverisiert den Selbstwert“

„Arbeitslosigkeit pulverisiert den Selbstwert“

Was macht Arbeitslosigkeit mit Menschen? Welche psychologischen und sozialen Folgen hat dieser Zustand? Und wie können Unternehmen jene Menschen „zurückholen“, die bereits aufgegeben haben? Re:Think hat diese Fragen der Psychotherapeutin Johanna Schwetz-Würth gestellt.

 

 

Frau Schwetz-Würth, das Thema Arbeitslosigkeit wird meist aus der Sicht des so genannten Marktes verhandelt. Aber wie sieht es auf der anderen Seite aus? Was macht Arbeitslosigkeit mit Menschen – kann man das generalisieren?

Johanna Schwetz-Würth: Arbeitslosigkeit erschüttert zutiefst das Welt- und das Selbstverständnis. Zumindest mittelfristig unterminiert sie den Selbstwert der Betroffenen. Jeder Mensch stützt sich auf Säulen – neben Beziehung und Familie oder Freundeskreis und Freizeit ist Arbeit eine solche Säule. Bricht eine davon weg, beginnt das ganze Haus zu wackeln. Eine Zeit lang können die anderen Säulen ausgleichend wirken. Fällt aber eine davon dauerhaft weg, schleicht sich unweigerlich der Gedanke ein: Vielleicht stimmt ja mit mir etwas nicht, vielleicht bin ich doch nicht gut genug. Arbeitslosigkeit pulverisiert den Selbstwert.

 

Substitution funktioniert also nicht?

Schwetz-Würth: Möglicherweise für kurze Zeit. Manche Menschen mögen die ersten Monate sogar als erholsam empfinden, sie haben mehr Zeit für sich selbst, ihre Familie und den Freundeskreis. Doch das geht meist nicht lange gut. Ich kenne eigentlich nur eine Ausnahme: Wenn Betroffene eine Tätigkeit finden, die ähnlich einer Erwerbstätigkeit ist, wie etwa zivilgesellschaftliches Engagement. Dann werden sie gebraucht, erhalten Struktur und vor allem Anerkennung für ihre Tätigkeit. Diese Option besteht allerdings nur, wenn man finanziell unabhängig ist.

 

Und welche Auswirkungen hat dieser Zustand?

Schwetz-Würth: Manche Menschen werden depressiv, manche aggressiv, manche reagieren psychosomatisch. Nicht wenige geraten auch in eine Suchtproblematik, und fast alle entwickeln früher oder später ein grundlegendes Gefühl von Sinnlosigkeit, im schlimmsten Fall von Wertlosigkeit. Natürlich ist die persönliche Resilienz im Einzelnen sehr unterschiedlich, doch in diese Richtung geht es früher oder später bei fast allen. Arbeitslosigkeit ist stark schambesetzt. Und Scham erzeugt Rückzug.

 

Wie definieren Sie Scham?

Schwetz-Würth: Scham ist das fundamentale Gefühl, nicht gut genug zu sein. Und damit kein Recht zu haben, an der Gemeinschaft teilzuhaben. Nicht, weil man etwas falsch gemacht hätte, sondern weil scheinbar mit der eigenen Person etwas nicht stimmt. Man schämt sich vor sich selbst und projiziert das auch auf andere, weil man denkt, dass die einen nicht mehr wertschätzen. Und das ist ja nicht völlig unbegründet, das Image von Arbeitslosigkeit ist bekanntlich denkbar schlecht. Jede Absage auf eine Bewerbung verstärkt dieses Erleben ein Stück mehr.

 

Ich nehme an, Ratschläge aus dem persönlichen Umfeld sind eine zweischneidige Sache?

Schwetz-Würth: Ratschläge zu geben, ist nur hilfreich, wenn man auch um Rat gefragt wird. Wenn nicht, sollte man es besser lassen. Die oft gut gemeinten Klassiker – Reiß dich zusammen! Mach eine Fortbildung! Nimm doch erstmal irgendeinen Job an! – sind kontraproduktiv und verstärken das Gefühl, nicht zu genügen. Die wenigsten Menschen hören einfach zu und fragen, wie es dem anderen geht. Ein durchaus nachvollziehbarer Schutzmechanismus – wer Mitgefühl hat, läuft Gefahr, den Schmerz des Gegenübers mitzufühlen.

Ähnliches geschieht derzeit ja im Zusammenhang mit Long Covid und dem Chronic Fatigue Syndrome. Auch hier erhalten Betroffene oft Ratschläge, die nicht helfen und die den ohnehin fürchterlichen Zustand weiter verschlechtern können.

 

Ein sich selbst verstärkendes System?

Schwetz-Würth: So ist es. Wer etwa in diesem Zustand in ein Bewerbungsgespräch geht, wird nicht unbedingt vor Aktivität sprühen. Und jede Absage verstärkt wiederum den Zustand – ein Teufelskreis. Das ist tatsächlich eines der größten Probleme. Und auch ein Auftrag an die HR-Abteilungen.

 

Inwiefern?

Schwetz-Würth: In Bewerbungsgesprächen wird meist das große Bild aus der Sicht des Unternehmens entworfen, werden dessen Anforderungen und die Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber übereinandergelegt. Aber die wenigsten stellen die simple Frage: Was brauchen Sie denn? Vorgesetzte meinen oft zu wissen, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen – aber nur wenige fragen auch danach.

Allein diese Frage macht den Job jedoch gleich attraktiver, selbst dann, wenn nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Wir arbeiten nun mal lieber in einem Unternehmen, das sich ernsthaft für unsere Bedürfnisse und Wünsche interessiert. Viele Führungskräfte fürchten sich jedoch vor den Antworten, die sie erhalten könnten – zu Unrecht.

Ich möchte hier aber auch die HR-Abteilungen ein wenig in Schutz nehmen: Ich habe den Eindruck, dass viele bereit wären, gelernte Selbstverständlichkeiten und unternehmensinterne Glaubenssätze über Bord zu werfen. Etwa die Frage, mit welchem Blick Bewerbungen aussortiert werden. Oder die Frage, ob die kommunizierten Unternehmenswerte mit den Bedürfnissen der Menschen übereinstimmen. HR-Abteilungen sind leider oft eine Art Anhängsel des Managements, das vor allem dafür sorgen soll, dass die Fluktuation gering bleibt und alle möglichst happy sind. Dass die HR meist weiblich besetzt ist, ist ja ein Indiz dafür.

 

Ist Geld ein starker Anreiz, um Menschen zurück in den Arbeitsmarkt zu holen?

Schwetz-Würth: An der Gesellschaft teilzuhaben – das ist ein starker Anreiz. Und dafür benötigt man nun einmal Geld. Wir beide können nach diesem Gespräch etwas essen gehen, ohne lange darüber nachzudenken. Wer mit 600 Euro im Monat auskommen muss, kann das nicht. Geld ist durchaus ein massiver Anreiz. Weil man wieder am ganz normalen Leben teilhaben kann. Geld ist in Zahlen gegossener Respekt.

 

Ist eine Erhöhung der Gehälter also der Weg?

Schwetz-Würth: Ich habe keine Patentlösung – die hat derzeit wohl niemand. Doch ich denke, dass die Frage des Gehalts tatsächlich ein zentraler Hebel ist. Der allseits beklagte Mangel an Lkw-Fahrern ist ein gutes Beispiel: Diese Menschen stehen in der sozialen Hackordnung weit unten. Sie machen einen harten Job, stehen permanent unter Zeitdruck, und sie müssen manchmal selbst für das Duschen bezahlen – wenn sie denn die Möglichkeit dazu haben. Sie werden zum Teil bezahlt wie ungelernte Hilfskräfte. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ein besseres Einkommen ist tatsächlich ein Hebel.

zur Person

Johanna Schwetz-Würth ist systemische Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin in Wien. Sie verfügt über langjährige Erfahrung als Coach in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen und leitete als geschäftsführende Gesellschafterin eine Beratungsagentur für Führungskompetenz.

© Johanna Schwetz-Würth
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