„Irgendwann

kommt die Stunde der Wahrheit“

„Irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit“

Viele Unternehmen sprechen gezielt Frauen an, um den Mangel an Arbeitskräften zu mildern. Doch das wird nur funktionieren, wenn dahinter eine Unternehmenskultur steht, die deren Bedürfnisse auch authentisch berücksichtigt – meint Logistikerin Sylvia Völker.

Frau Völker, ich muss zugeben, dass ich mich bei unserem Thema ein wenig unwohl fühle.

Sylvia Völker: Warum das?

Einerseits bin ich nicht sicher, ob ich als Mann der Richtige bin, über Frauen in der Logistik zu sprechen. Und andererseits habe ich die Befürchtung, dass wir gerade dazu beitragen, das Thema „Frauen“ wieder einmal als Problem zu behandeln.

Völker: Die erste Sorge kann ich Ihnen nehmen. Ich diskutiere sehr gerne mit Männern darüber. Ich empfinde das als befruchtend, und im besten Fall lernen beide neue Facetten kennen.

Dass das Frauen-Thema unter dem Begriff „Diversität“ verhandelt wird, halte ich tatsächlich für problematisch. Frauen stellen fast 51 Prozent der Bevölkerung. Sie leisten den größten Teil der Pflegearbeit, sie schmeißen den größten Teil des Haushalts – und beides ist definitiv eine Managementaufgabe. Viele Frauen tragen auch einen Rucksack an Schuldgefühlen, weil sie stets das Empfinden haben, etwas nicht perfekt zu machen. Frauen sind ständig im Laufschritt unterwegs. Und das laugt aus.

 

Hier berühren einander doch zwei Sphären. Einerseits die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die auf die beruflichen Gegebenheiten massiv ausstrahlen. Andererseits Technik lastige Branchen wie die Logistik, die traditionell stark männlich dominiert sind. Verstärken die beiden einander?

Völker: So ist es. Und wenn Sie mir – mit einem Augenzwinkern – einen kleinen Seitenhieb erlauben: Uns Frauen wird immer unterstellt, wir verstünden nichts von Technik. Ich frage mich allerdings immer wieder, warum Männer, die doch so Technik-affin sind, daheim nicht einmal eine Waschmaschine bedienen können.

Um Ihre Frage zu beantworten: Mehr Frauen als Männer absolvieren die Matura. An den Universitäten und Fachhochschulen beträgt das Verhältnis ungefähr 50:50 – und zwar auch in den Logistik-Ausbildungen. Doch danach bricht es abrupt ab. Wo all diese Frauen bleiben? Ich frage mich das auch manchmal. Je höher die Positionen werden, desto weniger Frauen trifft man. Eine Langzeitstudie, wohin die Berufswege gut ausgebildeter Frauen führen, hielte ich für extrem interessant – ich kenne aber keine.

Dass sich Frauen gerade in der Logistik mehr beweisen müssen als Männer, ist ein Faktum. Und ganz ehrlich: Es war auch für mich manchmal sehr ermüdend, immer wieder nachweisen zu müssen, dass ich sehr wohl weiß, wie ein Lkw aussieht.

 

Aber wie sollen Logistik-Unternehmen, die Frauen als Mitarbeiterinnen gewinnen wollen, nun agieren?

Völker: Das Berufsbild des Logistikers wird zu eng betrachtet. Es gibt entlang einer Wertschöpfungskette so viele interessante Berufe, und durch die Digitalisierung sind viele dieser Berufe noch interessanter geworden. Wir Logistikerinnen uns Logistiker und damit die Unternehmen sollten vor allem dringend daran arbeiten, das Image dieser Branche zu verändern. Ich habe erst vor wenigen Wochen eine kleine Umfrage unter Studentinnen und Studenten durchgeführt, was sie eigentlich von ihrem künftigen Job erwarten. Die Rückmeldungen waren für mich nicht überraschend: ein moralisch vertretbares Geschäftsfeld. Gute Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes. Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Gute Firmenkultur und Arbeitsklima. Und erst danach kam die Antwort: gerechte und leistungsorientierte Bezahlung.

Das Spannende daran ist ja: Frauen sind im Schnitt gegenüber ihren Arbeitgebern loyaler als Männer. Wenn also das Umfeld passt, wenn die Karriereaussichten passen, sind sie deutlich weniger wechselbereit. Dass viele Unternehmen das nicht nutzen, ist wirklich unbegreiflich.

Ich habe außerdem den Eindruck, dass jungen Menschen – egal, ob Frauen oder Männern – häufig zu wenig Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln. Wenn Sie 24 Jahre alt sind und gerade ein Studium absolviert haben, können Sie nicht wissen, was wirklich hinter einem Job steckt – auch wenn manche Unternehmen in ihren Stellenausschreibungen immer noch glauben, hier gingen sich zehn Jahre Auslandserfahrung und mehrere Sprachen aus.

Speziell für die Logistik gilt: Dies ist ein riesiger Bereich mit zahllosen Facetten. Sie können von einem jungen Menschen also auch nicht erwarten, dass sie oder er genau weiß, wohin sie oder er sich entwickeln will. Ein wesentlicher Aspekt ist in meinen Augen daher, auf die Begabungen und die Interessen dieser jungen Menschen wirklich einzugehen und ihnen eine Chance zu geben. Dieser Aspekt gilt ebenso für Frauen, die wieder in das Berufsleben einsteigen möchten.

Und ja, es braucht auch unterschiedliche Arbeitszeitmodelle. Wir Frauen möchten nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, das ist ein Klischee. Wir treten gerne den Beweis für unsere Kompetenz und Leistung an.

Es ist auch nicht neu, dass gemischte Teams innovativer und erfolgreicher für das Arbeitsklima sind, da mehr Verständnis für unterschiedliche Sichtweisen aufgebaut wird.

 

Welche Implikationen hat das für Recruiting? Ist es der richtige Ansatz, Frauen gezielt als Frauen anzusprechen, wenn man ihnen einen Beruf in der Logistik oder anderen technischen Bereichen schmackhaft machen will?

Völker: Das halte ich prinzipiell durchaus für den richtigen Ansatz. Denn es gibt einen signifikanten Unterschied, wie Männer und Frauen geschlechterneutral formulierte Jobangebote lesen: Männer sind meist der Meinung, dass sie mindestens 80 Prozent der Anforderungen locker erfüllen und dass sie die restlichen 20 Prozent schon lernen werden. Frauen sind da oft wesentlich weniger selbstbewusst, lassen sich schon davon abschrecken, wenn sie gewisse Begriffe nicht kennen. Frauen brauchen meist die hundertprozentige Sicherheit, dass sie den Job auch abdecken können.

Es geht also auch um das Wording?

Völker: Definitiv, gewisse Fachbegriffe sind in der Branche gang und gäbe, schrecken aber vor allem junge Menschen tendenziell ab. Das betrifft nicht zuletzt den Begriff „Logistik“ selbst. Ich rate dazu, weniger Fachbegriffe zu verwenden und das Berufsfeld mit ganz normalen Worten zu beschreiben. Bei vielen Diskussionen mit jungen Menschen merkte ich, dass ich die Aufgabengebiete bei Annoncen erklären musste.

Das Wording ist darüber hinaus auch ein Indikator für die Unternehmenskultur. Wird in einem Unternehmen zwischen Zuarbeitern und Leistungsträgern unterschieden – und das habe ich wörtlich so gehört –, ist wohl klar, dass Wertschätzung hier nicht im Fokus steht. Schlechte Unternehmenskultur schreckt Frauen aber noch stärker ab als Männer. Dass diverse Bewertungsplattformen diesen Aspekt längst gläsern gemacht haben, verstärkt diesen Effekt.

Zum Wording gehören aber auch die Fragen, die in manchen Bewerbungsgesprächen mit Wiedereinsteigerinnen immer noch gestellt werden: Haben Sie eine Betreuungsmöglichkeit für Ihre Kinder? Wenn die Frau diese Möglichkeit nicht hätte, wäre sie doch nicht hier, oder? Nicht vergessen, Mütter sind die besten Organisatorinnen!

 

Das positive Vorurteil gegenüber Frauen, sie wären kommunikativ begabter – bestätigen Sie das?

Völker: Kann ich für mich nicht so pauschal beantworten. Mit einem weiteren Augenzwinkern: Grosso modo: ja. Und diese so genannten Soft Skills sind mittlerweile zu Hard Skills geworden. Kommunikation, Rhetorik, Präsentation, Auftreten, Firmenkultur – all diese Themen haben massiv an Bedeutung gewonnen. Die meisten Kündigungen erfolgen aufgrund des Verhaltens der direkt Vorgesetzten. Hier anzusetzen, egal auf welcher hierarchischen Ebene, das können auch Klein- und Mittelbetriebe. Nehmen Sie nur das Thema Lkw-Fahrer-Mangel! Dass die Kommunikation zwischen den Fahrern und dem Lager eine spezifische ist, ist wohl bekannt. Und genau solche Elemente bleiben hängen: Die Logistik vermittelt weitgehend nicht, wie spannend sie ist, wie viel man hier organisieren kann, die unglaubliche Vielfalt. Was oft hängenbleibt, ist eine schlechte Unternehmens- und Gesprächskultur.

 

Wenn man davon absieht, dass Frauen nun die Lücken in den Reihen schließen sollen: Was bringen Frauen Ihrer Meinung nach in Unternehmen ein?

Völker: Unglaublich viele Facetten. Nur ein Beispiel: Frauen sind detailverliebt, sie arbeiten im Schnitt exakter als Männer. Staplerfahrerinnen zum Beispiel verursachen nachweislich weniger Fehler als ihre männlichen Kollegen. Niki Lauda hat einmal gesagt: „Nur wer auf die kleinsten Details achtet, kann erfolgreich sein“ …

… in diesem Zusammenhang ein interessanter Zeuge …

Völker: … aber er hatte für mich vollkommen Recht. Mir wurde immer wieder vorgeworfen, ich sei viel zu detailverliebt. Aber mein Ansatz dazu war und ist: Ich kann nur kompetent zu einem Thema sprechen und auch Mitarbeiter:innen motivieren und ins Boot holen, wenn ich die Details kenne. Auch neigen Frauen dazu, erst dann zu sprechen, wenn sie sich ihrer Sache sicher sind. Dass Männer nicht immer so agieren, müssen auch wir erst lernen. Und ganz ehrlich: Ich bewundere das auch teilweise. Da haben sie uns im beruflichen Kontext möglicherweise etwas voraus.

Wirbt also ein Unternehmen etwa mit Bildern um Mitarbeiterinnen, die konkret zeigen, worum es geht, ist das durchaus ein erfolgversprechender Ansatz.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass gemischte Teams einfach besser funktionieren. Aber nicht, weil die Frauen hier „das Gute“ einbringen – sondern, weil Frauen und Männer sich sehr gut ergänzen.

 

Erfolgreichen Frauen wird gerne vorgeworfen, sie agierten „männlich“.

Völker: Ja, dann gelten sie als „Karrierefrau“, die wahrscheinlich weder Mann noch Kinder hat. Gibt es eigentlich auch den Begriff „Karrieremann“? Im Bereich der Führung wird Frauen gerne Wärme und Fürsorge zugeschrieben, die Rolle als Coach und Moderatorin. Dominanz, Durchsetzungsvermögen und analytische Denken sind männlich konnotiert. Wieder ein Klischee.

Und plötzlich ist der Begriff des Transformationalen Führungsstils aufgetaucht: Führung durch Motivation, Vorbildwirkung, das Anregen zu kreativem Denken. Von Frauen wird das erwartet. Zeigen aber Männer diesen Führungsstil, wird es als besonders positiv hervorgehoben. Für mich gibt es ohne Intuition keine Führung.

 

Wie sieht denn Ihre Bilanz aus? Ist in das Frauen-Thema immer noch ein Feigenblatt, oder hat sich tatsächlich etwas bewegt?

Völker: Immer mehr Unternehmen arbeiten konstruktiv und mit Überzeugung daran. Andere schreiben es nur in ihre Leitbilder, doch irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit. Ich denke, die Quote der Fluktuation ist hier ein sehr guter Indikator. Ein wesentlicher und bereits gängiger Ansatz sind für mich außerdem Mitarbeitergespräche. Nicht jedoch, wenn sie nur einmal jährlich „abgehandelt“ werden, nicht ehrlich geführt und daraus keine To-dos abgeleitet werden.

 

Und was halten Sie prinzipiell von Quoten?

Völker: Ach, die Quoten! Es gibt wohl wenige Themen, die die Gemüter derartig erhitzen. Ob Männer oder Frauen, da sind wir gleich. Mein erster Impuls war: Das brauchen wir nicht. Es kann nicht sein, dass ich als Frau einen Job nur wegen einer Quote bekomme. Doch meine Einstellung dazu hat sich geändert. Quoten sind definitiv kein ideales Instrument – aber besser als gar nichts. Ich befürchte, Quoten werden zumindest auf absehbare Zeit notwendig sein. Auch Gendern ist im Alltag nicht angenehm, aber letztlich halte ich auch das für notwendig, um endlich etwas zu bewegen.

Letztlich geht es auch darum, Berufsbilder und Arbeitszeitmodelle für alle attraktiver zu gestalten. Wenn das gelingt, muss sich auch die Logistik keine Sorgen mehr um ihre Anziehungskraft auf Frauen machen. Fachwissen ist die Standardvoraussetzung in jedem Berufsbild. Was aber wesentlich mehr zählt, ist die soziale Kompetenz.

zur Person

Sylvia Völker ist studierte Supply Chain und Corporate Governance Managerin sowie Lehrende an unterschiedlichen Universitäten, Fachhochschulen und renommierten Weiterbildungsplattformen.
Bis 2018 verantwortete sie alle Bereiche der Supply Chain Management Group der Maresi Austria GmbH, bevor sie sich 2019 selbstständig machte.
Die Schwerpunkte der Sylvia Völker Consult bilden neben der klassischen Unternehmensberatung im Bereich Supply Chain Management auch die Ausbildung der Mitarbeiter.

© Sylvia Völker
Werden Sie Teil des
Verein Netzwerk Logistik