Leergefischt?

Leergefischt?

Der Arbeitskräftemangel hat sich wie ein dunkler Schatten über die Wirtschaft gelegt. Auch die Logistikbranche sucht händeringend nach Mitarbeiter:innen. Die demografische Entwicklung und die Leerung der osteuropäischen Pools sind als Ursachen ebenso schnell benannt wie veränderte Erwartungen junger Menschen an die Arbeitswelt. Helfen die gängigen Recruiting-Ansätze noch? Oder müssen Unternehmen nun radikal umdenken?

Es war – im wahrsten Sinne des Wortes – eine andere Welt. Im Zuge eines M&A-Projekts in den USA beschäftigte sich Kurt Leidinger vor Jahren intensiv mit mittelständischen amerikanischen Trucking-Unternehmen. Was der langjährige Top-Manager und heutige Consultant im Logistik-Management dabei zu sehen bekam, ist für europäische Verhältnisse ziemlich erstaunlich: „Einer unserer ersten Schritte war die Recherche auf den Websites, und da sind wir einer komplett anderen Welt begegnet“, erzählt Kurt Leidinger. „Diese Websites waren geradezu Litfaß-Säulen zur Anwerbung von Fahrer:innen. Sie konnten hier zwischen verschiedenen Lkw-Modellen wählen, bis hin zu Innenraumausstattung, Farbe und speziellen Gimmicks. Sie konnten also genau das Arbeitswerkzeug konfigurieren, das sie brauchen und das sie wollen.

Ein Ansatz, der sich auch in der Praxis spiegelte: Grundlegend nahm in diesen Betrieben jeder darauf bedacht, dass die Fahrer:innen in der Ausübung ihres Jobs möglichst keine Probleme bekamen. Die Lkw wurden permanent gewartet, damit sie bloß nicht liegenblieben. Auch wurde streng darauf geachtet, dass es keine Probleme mit den Kreditkarten gab. „Man hat versucht, den Fahrer:innen jegliche Probleme aus dem Weg zu räumen – das kenne ich in dieser Ausprägung in Europa nicht“, sagt Kurt Leidinger.

Hinzu kommt die Gehaltskomponente. In den USA, erzählt Leidinger, verdienen Lkw-Fahrer:innen vereinzelt bis zu 100.000 Dollar im Jahr. „Da tränen den europäischen Kolleg:innen die Augen.

Das Eingehen auf individuelle Erwartungen und Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen. Die bessere Bezahlung. Und der respektvolle Umgang mit den Menschen. Sind das die Hebel, um dem Arbeitskräftemangel wirksam entgegenzutreten? 

 

Demografie und Einstellungen

Die Folgen des demografischen Wandels sind relativ einfach in Zahlen zu gießen. Die Entwicklung hat das Potenzial an Arbeitskräften in den vergangenen Jahren um rund 20 Prozent vermindert. Um die Bevölkerung stabil zu halten, benötigte eine Gesellschaft ungefähr 2,15 Geburten pro Frau. In Österreich liegen wir aktuell bei rund 1,8. Nimmt man die migrantische Bevölkerung aus der Rechnung, sind es nur noch rund 1,4 Geburten.

Meinungsforscher Herbert Kling, mit seinem Unternehmen brandscore.at auf Recruiting, Employer Branding und Employee Engagement spezialisiert, ortet ein mindestens ebenso grundlegendes Thema: „Hinzu kommt nun der Bereich, den man als Work-Life-Balance beschreibt: Die nachrückenden Menschen wollen ganz einfach weniger arbeiten, und das reduziert den Pool um schätzungsweise weitere 25 Prozent. Das sehen wir in Österreich, und das sehen wir in Osteuropa.

Gefühlt werde jeden Tag eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht, meint Kling, und die Ergebnisse seien eindeutig: „Befragt man bis zu 30-Jährige, ob sie weniger arbeiten wollen, kommt wenig überraschend heraus, dass es genauso ist. Doch dieser Befund zieht sich durch alle Altersgruppen – auch wenn es interessanterweise auffällig wenige Studien dazu unter älteren Erwerbstätigen gibt: Die meisten Menschen wollen nicht mehr 40 Stunden pro Woche arbeiten. Das ist also definitiv kein Thema der Jungen.“ Die Pandemie hat diesen Effekt augenscheinlich verstärkt. Home-office, freiere Einteilung der Arbeitszeit und auch Arbeitszeitverkürzung wurden dadurch fast über Nacht zu breit diskutierten Themen.

 

Die Faust in der Tasche

Bevor man über Recruiting nachdenkt, lohnt sich ein Schritt zurück. Mit dem wachsenden Mangel an Arbeitskräften gerät der Aspekt des Haltens der bestehenden Mitarbeiter:innen immer stärker in den Fokus. Und in dieser Disziplin scheint mindestens ebenso viel im Argen zu liegen. Entsprechende Befragungsergebnisse zeichnen ein relativ desaströses Bild.

In jeder Organisation gibt es drei klassische Gruppen an Mitarbeiter:innen. Die so genannten High-performer treiben die Dinge voran, denken unternehmerisch und gehen auch die berühmte „Extrameile“ – selbst, wenn sie ihnen finanziell unter dem Strich nichts bringt. Dieser Gruppe gehören im Schnitt der Untersuchungen rund 15 Prozent der Mitarbeiter:innen an.

Das breite Mittelfeld – je nach Befragung zwischen 55 und 70 Prozent – macht „Dienst nach Vorschrift“. Ein Begriff, der nach Meinung von Herbert Kling völlig zu Unrecht diskreditiert ist: „Es bedeutet ja nichts anderes, als das zu tun, wofür man bezahlt wird. Die wollen die Extrameile nicht gehen, und dazu wird man sie auch nie bringen.

Und dann gibt es jene, die innerlich gekündigt haben. Die jeden Tag mit der Faust in der Tasche in die Arbeit gehen. Je nach Studie und Branche sind das zwischen 15 und 30 Prozent. Manche von ihnen schreiben Bewerbungen – haben ihr berufliches Leben also noch nicht ganz aufgegeben. „Bis zu jeder Fünfte in den Unternehmen tut das, eine unglaubliche Zahl! Andere tun nicht einmal mehr das.

 

Purpose oder Purpose-Whitewashing?

Der mittlerweile beschrittene Weg fast aller Unternehmen, auf diese Tatsachen zu reagieren, lautet: Unternehmenswerte. Was prinzipiell großartig klingt, ist allerdings ein Minenfeld der Extraklasse. Gibt es keine Übereinstimmung mit den Werten der Beschäftigten oder werden – wie in vielen Fällen – die Werte zwar definiert, erreichen aber weder Köpfe noch Herzen der Mitarbeiter:innen, geht der Schuss sehr schnell nach hinten los. „Keine Werte, kein Leitbild zu definieren, ist in jedem Fall besser, als sie zu definieren und dann nicht zu leben und erlebbar zu machen“, sagt Herbert Kling. „Werte werden häufig als Absicherung gegenüber den Stakeholder definiert – wenn sie aber die Mitarbeiter:innen nicht erreichen, sind sie nicht nur nutzlos, sondern meist kontraproduktiv.

Im schlechtesten Fall wird ein Wert ein- oder zwei Mal über den Firmen-Newsletter kommuniziert. Im etwas besseren Fall wird der Wert intensiv getrommelt, findet aber in der täglichen Arbeit keine Entsprechung. Definierte Werte, die im Alltag der Mitarbeiter:innen nicht erlebbar werden, führen aber zu einer ähnlichen Arbeitsunzufriedenheit, als hätte das Unternehmen überhaupt keine Werte definiert.

Herbert Kling spricht von einer klassischen Falle: „Wer sein Unternehmen aufhübscht, die definierten Werte aber nicht ins Leben bringt, wird permanent Mitarbieter:innen verlieren, weil sie die Lüge sehr genau spüren. Employer Branding ist leider in vielen Fällen nichts anderes als Purpose-Whitewashing.

Der Aspekt des Aufhübschens spiegelt sich auch in der Beliebigkeit vieler Wertekataloge. Unternehmen, die ihre Purposes allzu allgemein Formulieren, haben es schwerer, die Menschen damit auch zu erreichen. Nachhaltigkeit, Fairness, Diversity oder flache Hierarchien – dahinter können sich wohl die meisten versammeln. Herbert Kling rät dazu, Unternehmenswerte deutlich spezifischer, kantiger zu formulieren. „Und diese Werte müssen übrigens nicht unbedingt positiv konnotiert sein. Hat ein Unternehmen den glaubhaft gelebten Wert, im Mittelpunkt stünden der Umsatz und das Über-den-Tisch-Ziehen der Kunden, wird es ebenfalls die passenden Mitarbeiter:innen finden.

 

Milieu-Verschiebungen

Die wahrhaftigsten Unternehmenswerte bleiben naturgemäß wirkungslos, wenn sie nicht mit jenen der (potenziellen) Mitarbeiter:innen übereinstimmen. Doch welche Werte vertreten die nachrückenden Generationen eigentlich? Stimmt das verbreitete Vorurteil, hier drängten junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, die in hedonistischer Verblendung keine Leistung mehr erbringen wollen?

Ein seit Jahrzehnten etablierter Weg, gesellschaftliche Veränderungen zu beschreiben, sind die Sinus-Milieus des Heidelberger Sinus-Instituts. Sie sind laut dem geschäftsführenden Gesellschafter Manfred Tautscher eine Methode, „ein wenig Struktur in den Dschungel zu bringen. Dieser Dschungel war früher um einiges lichter: Menschen zu erreichen, war im Vergleich zu heute relativ einfach – die Welt war gewissermaßen strukturierter.

Aktuell bilden die Sinus-Milieus zehn gesellschaftliche Gruppen ab. Manfred Tautscher betont, dass diese nicht mit Alters-Gruppen verwechselt werden dürfen: „Mit den Milieus beschreiben wir vor allem auch das ‚soziale Alter‘. Nicht jeder junge Mensch ist ein Hipster, viele sind ganz anderswo angesiedelt. Nicht jeder Babyboomer ist in der bürgerlichen Mitte zu verorten. Nicht jede Familie ist bürgerliche Mitte – auch Hipster bekommen Kinder, aber ‚bürgerlich‘ leben wollen sie deshalb nicht.

Über das generelle Verständnis gesellschaftlicher Gegebenheiten hinaus sind die Sinus-Milieus in seinen Augen ein probates Mittel, das Recruiting zu strukturieren: „Je besser man bestimmte Gruppen versteht, desto erfolgreicher kann man sie auch ansprechen. Leider ist die HR in vielen Unternehmen immer noch eine vernachlässigte Position. Ich habe allerdings den Eindruck, dass dieser Bereich gerade dabei ist, eine ganz andere Bedeutung zu erlangen.

Die Gesellschaft, sagt Tautscher, war immer schon vielschichtig, aber die Mitte war früher breiter. Noch in den 2010er-Jahren war die heutige adaptiv-pragmatische Mitte die junge Mitte, und die wurde mehr oder weniger zur Mitte der heutigen Gesellschaft. „Die bürgerliche Mitte ist gleichzeitig sehr nostalgisch geworden: Diese Menschen haben das Bedürfnis, es müsse sich etwas ändern, damit es wieder so wird, wie es früher einmal war. Einst stand die Mitte eher für Beständigkeit, aber die Welt hat sich verändert – Digitalisierung, Migration, Gender-Thematik, Political Correctness – all dies schreckt dieses Milieu eher ab, und daher sind diese Menschen häufig an die politische Rechte verloren.

Die deutliche Fragmentierung der Gesellschaft stellt Unternehmen vor ein Problem: Gibt es etwa „die Jugend“ nicht, stattdessen zahlreiche einander teilweise überschneidende Milieus, die sich nicht exakt entlang von Altersgruppen definieren, wird es schwierig, etwa „jugendliche Werte“ zu erkennen und zu adressieren. Dass grosso modo Werte wie Nachhaltigkeit, Diversität, Fairness oder Work-Life-Balance an Bedeutung gewinnen, ist unbestritten. Doch reicht das, um Recruiting erfolgreicher zu machen?

Die kreative Umsetzung dieses Wissens ist natürlich genauso wichtig“, betont Manfred Tautscher. „Zu den größten Fehlern, die wir immer wieder sehen, gehört, dass Erwachsene versuchen, die Welt der Jugendlichen darzustellen, ohne die Jugendlichen wirklich zu verstehen. Dafür gibt es Spezialisten, und auf die sollte man sich auch verlassen.

Und auch er betont die Wichtigkeit, Werte und Realität in Einklang zu bringen. Die beste Ansprache verpufft, wenn die Arbeit in der Praxis dem zuvor vermittelten Bild nicht entspricht. „Schafft ein Unternehmen etwa eine ‚Frauen-gerechte‘ Ansprache, schafft es ein Unternehmen, Frauen zum Beispiel für den Beruf der Lkw-Fahrerin zu incentivieren – ist die Welt danach aber frauenfeindlich: Dann ist das Scheitern vorprogrammiert. Ich denke daher, dass ein immer bestimmenderer Faktor in der HR neben der reinen Kommunikation die Gestaltung der Realität sein wird. Wenn ein Unternehmen das nicht leisten kann oder will, ist das eben so. Dann sollte es aber auch aufhören, Frauen anzusprechen.

 

Muss es erst richtig wehtun?

Dass ausgerechnet manche US-amerikanische Unternehmen den Zusammenhang zwischen Mitarbeiterbindung und Respekt früh erkannt haben, mag angesichts des Images der transatlantischen Arbeitswelt überraschen – und kann wohl nicht generalisiert werden. Dennoch, meint Kurt Leidinger, haben man in den USA prinzipiell besser erkannt, dass etwa die Lkw-Fahrer:innen gleichwertige Partner in der Transport-Wertschöpfungskette sind. „In Österreich und in Europa ist dieser Beruf einfach nicht anerkannt. Möglicherweise liegt eine Ursache dafür in der Sprache: Viele Fahrer:innen in der DACH-Region stammen aus nicht-deutschsprachigen Ländern. Das erschwert den Dialog natürlich.

Hinzu komme, so Leidinger, das Problem des Ausflaggens: „Das hat dazu geführt, dass man ‚günstigere‘ Fahrer:innen bekommen hat. Die heimischen Arbeitskräfte wurden nicht mehr angesprochen. Und jetzt müssen wir feststellen: Auch in Südosteuropa ist der Markt völlig leergefegt.“ Die Folge, so Leidinger: Das bestehende Lohnniveau in Europa wurde kannibalisiert. Waren Lkw-Lenker:innen in früheren Jahren zum Teil Schwerverdiener:innen, liegt das Gehalt nun auf dem Niveau der osteuropäischen Gehaltsvorstellungen.

Und Kurt Leidinger verweist darauf, dass die Unternehmen alleine das Problem nicht werden lösen können: Er zeigt sich davon überzeugt, dass zum Beispiel der Intermodalverkehr ein wesentlicher Teil der Lösung sein müsse. „Wenn wir die Langstreckenverkehre konsequent auf die Schiene verlagern, bleiben vor allem Kurzstreckenverkehre und die Vor- und Nachläufe zu und von den Terminals übrig. Und genau das wollen die Menschen ja: Sie wollen in der Früh raus und am Abend wieder daheim sein. Hier bedarf es wirklich eines stringenten Infrastruktur-Konzepts. Was alles nicht funktioniert, wurde schon oft genug aufgezählt, jetzt brauchen wir sehr konkrete Umsetzungs-Konzepte.

Die politische Komponente betont auch Meinungsforscher Herbert Kling: Unser Arbeitsrecht gehe im Grunde davon aus, dass die Mitarbeiter:innen ihre Zeit zur Verfügung stellen. Die Menschen empfänden aber immer stärker, dass es im Grunde doch darum gehe, eine gewisse Leistung, ein Projekt, ein „Stück“ abzuliefern. Wenn die Menschen sehen, dass das frühere Erledigen dieser Erwartung ihnen unter dem Strich nichts bringt, werden sie frustriert. „Österreich ist zudem für ausländische Arbeitskräfte mittlerweile einfach zu unattraktiv. Wir haben eines der strengsten Staatsbürgerschafts-Rechte der Welt, das scheint eine heilige Kuh zu sein. Ist die Perspektive, in anderen Staaten die Staatsbürgerschaft zu erhalten, besser, werden die Menschen auch dorthin gehen. Dürften zudem etwa Asylsuchende arbeiten, könnte man ein unglaubliches Potenzial öffnen. Was dagegen spricht, verstehe ich einfach nicht.

Dass politische Entscheidungen das Problem des Arbeitskräftemangels durchaus entschärfen könnten, sieht Kurt Leidinger am Beispiel Großbritanniens bestätigt. Die Nachrichten über die akute Versorgungskrise im Land, die noch vor eineinhalb Jahren um die Welt gingen, scheinen überholt: Die Lösung waren einerseits massive Subventionierung der Ausbildung und andererseits deutliche Erhöhung der Gehälter.

Ich bin prinzipiell davon überzeugt, dass Probleme gelöst werden können. In der Natur des Menschen liegt aber leider, dass es richtig wehtun muss, bevor etwas geschieht.

 

zu den Personen

Werden Sie Teil des
Verein Netzwerk Logistik